“Urmythos Unterwelt”
Die Göttin Inana steigt in die Unterwelt zu ihrer Schwester hinab, ihrem gewissen Tod entgegen. Kein lebendes Wesen kann von dort zurückkehren. Durch eine List gelingt es dennoch, sie gegen ein Unterpfand zu erlösen und sie darf wieder auferstehen.
Abstieg und Aufstieg, Tod und Wiederauferstehung, Verdammnis und Erlösung, Dürre und Fruchtbarkeit, Winter und Sommer. Um die Dualität der Natur und des menschlichen Lebens zu erklären wird dieser Mythos bis heute in unzähligen Varianten und Interpretationen wiedererzählt. Von den ersten sumerischen Tontafeln um 3000 v. u. Zeitrechnung, über die noch heute praktizierten christlichen Vorstellungen von Himmel und Hölle, bis zu den kurdischen Guerillakämpferinnen scheint der Mythos am Leben erhalten zu werden. Warum kehrt er immer wieder? Warum beginnt Inana ihre Reise immer wieder von vorn? Lernen wir nichts daraus? Befindet sich die Menschheit in einem zyklisch wiederkehrenden Wechsel aus Auf- und Abstieg? Erzählen wir die Geschichte oder steckt die Geschichte in uns, in unserer DNA als Menschheit?
BRuCH hat in einer einzigartigen Kollaboration von hervorragenden Künstlerinnen ein interdisziplinäres Musiktheaterstück entwickelt, das in 7 Kapiteln die vielfältige Rezeption dieses Urmythos wiederspiegelt. Die sieben Kapitel stehen für die sieben Pforten, die Inana auf ihrem Weg in die Unterwelt durchschreiten muss.
I. she, goddess, Inana (Hildegard von Bingen “Ordo virtutum")
II. “going inwards” (UA) von Leonie Strecker
III. “Inana’s death” (UA) von Dariya Maminowa
IV. Inana und Zilan, Märtyrerinnen für das Leben, Essay von Dilan Yazicioglu
V. Solo, Tanz von Lena Visser
VI. “AufBRuCH”, Videoart von Eva Jeske
VII. “The Seventh Gate”, (UA) Patrick Grigg
Textgrundlage:
aus “the electronic text corpus of sumerian literature” der Faculty of Oriental Studies, University of Oxford
https://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.4.1#
Bild: CC BY 3.0 File:Ishtar on an Akkadian seal.jpg Created: 25 March 2019
Inana’s descent to the underworld
From the great heaven she set her mind on the great below.
From the great heaven the goddess set her mind on the great below.
From the great heaven Inana set her mind on the great below.
sumerische Passage (transliteration)
an gal-ta ki gal-še3 ĝeštug2-ga-ni na-an-/gub\
diĝir an gal-ta ki gal-še3 ĝeštug2-ga-ni na-an-[gub}
dinana an gal-[ta ki gal-še3] ĝeštug2-ga-ni na-an-[gub]
....
Den vollständigen Text mit Zitaten aus der Performance des sumerischen und englischen Textes hervorgehoben findet man hier: Inana's Descent .pdf.
Ein Beispiel der musikalischen Inspiration und Herangehensweise an die Interpretation:
Hildegard von Bingen (1098-1179)
“Ordo Virtutum” (“Ordnung/Spiel der Tugenden/Kräfte”)
Ordo Virtutum ist das erste bekannte Mysterienspiel und die älteste “Teufelsmusik” des europäischen Raums. Hildegard von Bingen war Nonne, Dichterin, Komponistin und Universalgelehrte und schuf mit diesem Stück das erste Liturgie unabhängige Oratorium bzw. Singspiel mit verteilten Rollen. Sogar der Teufel bekam in diesem Stück eine Stimme, wenn auch ohne Töne, vermutlich, weil der Teufel in ihrer Interpretation keine Harmonie machen kann. Sie beschreibt eine Seele, die unter dem Einfluss der Stimmen des Himmels und der Hölle steht und sich trotz Warnungen dem Teufel hingibt. Als sie ihre Lage erkennt, ruft sie die Kräfte des Himmels zu Hilfe und bittet um Erlösung.
BRuCH nahm signifikante Stellen der lateinischen Texte und ihrer Vertonung als Improvisations und Arrangementmaterial, die sich an der Schnittstelle mit dem Inana-Mythos befanden. So deckt sich in gewisser Weise die Klage der Schwester Ereskigal über ihren versehrten Körper und ihr Herz, die Last der Körperlichkeit, die sie in der Unterwelt empfindet ("Oh my heart", "Oh my body" [u3-u8-a] /šag4\-ĝu10 dug4-ga-ni, [u3-u8-a] bar-ĝu10 dug4-ga-ni) und von der sie von den beiden “leblosen/körperlosen” Fliegen erlöst wird mit der Textstelle aus Ordo virtutum “O gravis labor”, in der es heißt: Die bedrückte Seele klagt: O schwere Arbeit, o drückende Last, die ich im Gewand dieses Lebens habe, denn es fällt mir allzu schwer, gegen das Fleisch zu kämpfen.
So entstand die Verbindung der sumerischen Texte mit der Musik Hidegard von Bingens auch auf Grund der narrativen Parallelen die über die Jahrtausende weiter zu bestehen scheinen und sogar kulturelle und religiöse Entwicklungen überdauern.
Dilan Yazicioglu: Inana und Zilan, Märtyrerinnen für das Leben
Auch in der kurdischen Frauenbewegung wird im Zusammenhang mit dem Kampf der Geschlechter immer wieder von dem sumerischen Mythos des 3. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung erzählt.
Hierbei werden klare Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern deutlich:
Enki als Gott und Herrscher über Hölle und Paradies obliegt die Entscheidung über Inanas Schicksal und das ihrer Schwester. Um ihre Schwester zu befreien, nimmt Inanna in Kauf, dass sie ihren Schmuck ablegen muss und vom männlichen Agressor vergewaltigt wird. Die weiblichen Figuren haben in dieser Erzählung somit eine unterlegene und ohnmächtige Rolle.
Diese Version des Mythos wird jedoch auch von kurdischen Kämpferinnen als „historischer Komplott“ angeprangert und durch alternative Lesarten umgedeutet:
Inanna wird nicht als das Opfer, sondern als aktiv handelnder Agens gesehen. Sie befindet sich zwar im vom Mann, dem Gott Enki, beherrschten Reich, jedoch entscheidet sie, sich diesem zu widersetzen und aus Solidarität zu ihrer Schwester, diese aus der männlichen Hölle zu befreien.
In diesem Fall widersetzt sich die weibliche Figur ihrer Unterlegenheit. Die Tatsache, dass sie dabei ihre körperliche Versehrtheit und ihren Schmuck als Kennzeichen ihrer Weiblichkeit aufgibt, kann als ein Akt der Transzendenz betrachtet werden. Im androzentrischen Diskurs wird die Frau immerzu in einer Relation der Immanenz zum Mann gedacht. Sie wird von ihm aus gesehen und als verfehlter Mann definiert. In diesem Fall aber entscheidet sich die weibliche Figur, ihre Unterlegenheit zu überwinden, wenngleich dies bedeutet, dass sie ihren Körper und das Wohlwollen des Mannes aufs Spiel setzen muss. Sie überwindet die Grenzen, indem sie an den Wachen vorbei schreitet, und dabei ihren Schmuck ablegt. Dieser Akt der Entledigung des Schmucks kann als Akt der Entgrenzung zwischen den Geschlechtern verstanden werden, bei dem, mit dem Ablegen des Schmucks als Inbegriff der Weiblichkeit, die Binärität und der Dualismus zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit Infrage gestellt wird.
In Bezug auf die Situation der kurdischen Kämpferinnen ist der Aspekt der abgelegten Weiblichkeit ein sehr zentraler. Die männliche Hölle im Mythos ist als Analogie zu den patriarchalen und misogynen Strukturen der Gesellschaft zu betrachten. Dennoch entscheiden sich die Frauen aus Solidarität nicht im männlichen Paradies zu verweilen, wo sie sein Wohlwollen und Akzeptanz erfahren. Vielmehr überschreiten sie die Grenzen und nehmen dabei in Kauf, dass sie als Kämpferinnen zwar für die Frauenbefreiung kämpfen, aber auf Partnerschaft, Liebe und Familie verzichten müssen. Sie sprengen damit das gängige gesellschaftliche Muster und die Logik der Immanenz, nach der sie bislang immer nur vom Mann aus gesehen wurden: als Mütter, Töchter, Ehefrauen und als Ehreträgerinnen – Somit stellen sie ebenso wie Inanna auch ihre körperliche Unversehrtheit aufs Spiel.
Die PKK-Guerillakommandantin Zîlan sprengte sich am 30. Juni 1997 vor einer Militärkaserne in Dersim in die Luft. Dabei kamen vier Soldaten und vier Unteroffiziere ums Leben. Zilan hinterließ drei Briefe. In einem der Briefe heißt es:
„Mein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch ist ein erfülltes Leben durch eine große Aktion.
Der Grund für diese Aktion ist meine Liebe zu den Menschen und zum Leben.“
Es ist besonders auffällig, dass hier eine Ambivalenz zwischen einer lebensbejahenden und lebensverneinenden Haltung vorliegt. Das sich selbst Opfern und in die Luft sprengen als lebensverachtender Akt wird hier zum Ausdruck der Liebe zum Leben dargestellt. Die Lebensverneinende Entsagung, sich vom Glanz des nichtigen Lebens abzuwenden versucht, ist zugleich eine Bestätigung der Schönheit des Lebens. Mit Blick auf die Situation der kurdischen Frau im Allgemeinen und auf den Fall von Zilan im Speziellen bedeutet dies, dass die Entscheidung für den Tod oder für den Kampf von einer Ausweg- und Perspektivlosigkeit ebenso geprägt sein kann, wie von einer eigenständigen, freien Entscheidung. An dieser Stelle verschwimmen die Konturen zwischen Emanzipation und Unterwerfung, in den gleichen Maßen wie die Differenz zwischen Lebensbejahung und Verneinung.
Dies erklärt den Heldenkult um die Figur Zilan, die als Ikone der Freiheit und Selbstbestimmung gepriesen wird. Die Figur Zilans hat als Märtyrerin und Mythos das kurdische Frauenbild nämlich dahingehend geprägt, dass sie das klassische Bild der fügsamen sublimen kurdischen Frau, in das einer militanten, furchtlosen Rebellin und Vorreiterin der Freiheit umgekehrt hat. Es wird an dem Beispiel von Zilan als auch bei Inanna, und den Kämpferinnen, die sich aus dem Tal in die Berge zurückziehen, deutlich, wie Frauen aus einer Ohnmacht heraus eine politische Agenda schaffen und um ein Selbstbestimmtes und freies Leben kämpfen.
Olga Tokarczuk im Vorwort ihres Romans
“Anna In”:
„Doch es besteht noch eine andere – ein wenig beängstigende – Möglichkeit: dass es nämlich bestimmte Mustergeschichten, vom Menschen unabhängige Erzählungen, Strukturen, narrative Algorithmen gibt, an die sich jedes individuelle, einzigartige Dasein, jede einzelne Eigenschaft anpassen lässt. Alles ist schon da gewesen, jedoch nicht im Sinne einer postmodernen Erschöpfung sämtlicher Muster, sondern in einem tieferen, ontologischen, platonischen Sinn. »Es hat alles schon einmal gegeben« – nicht als Zustand des gelangweilten, überdrüssigen Geistes des Menschen der Gegenwart, sondern als die Entdeckung einer tiefen Daseinsordnung. Nicht wir sind es, die die Muster beschreiben, sondern umgekehrt: Die Muster beschreiben uns.“
Olga Tokarczuk
Anna In, Eine Reise zu den Katakomben der Welt
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes, Kampa-Verlag
AufBRuCH Team
Choreografie und Tanz - Lena VisserLena Visser wurde 1988 geboren und ist eine freischaffende Tänzerin aus Köln. Sie tritt in einer Vielzahl von Tanzkontexten auf, vom kommerziellen Showbusiness bis zu unabhängigen Tanztheaterkollektiven, sowie mit Filmemachern, der Oper und Ensembles der klassischen Musik.
Videokunst - Eva Jeske
Eva Jeske ist bildende Künstlerin und Philosophin (M.A.) und lebt und arbeitet in Köln.
Ihr künstlerischer Schwerpunkt liegt auf abstrakter, expressiver Malerei, Grafik und Installation. Ihr Stil variiert von extrem dynamischen, rhythmisch komplexen Strukturen bis hin zu minimalistischen Werken.
Komposition - Dariya Maminova
Dariya Maminova (*1988) ist Komponistin, Pianistin, Sängerin und Interpretin. Sie arbeitet im Bereich der zeitgenössische instrumentalen und elektronischen Komposition, Improvisation und im Musiktheater.
DJ - Patrick Grigg
Patrick Grigg ist Komponist, Musikproduzent und Sounddesigner, der Originalmusik für Film, Theater und Werbung kreiert. Der klassisch in Klavier und Violine ausgebildete Patrick ist bekannt für seine einzigartige Synthese aus moderner Elektronik und westlicher klassischer Melodie.
Elektronische Komposition - Leonie Strecker
Leonie Strecker (* 1995 in Düsseldorf) ist eine Komponistin und Klangkünstlerin. In ihrer Arbeit konzentriert sie sich auf die Überschneidungen zwischen musikalischer Komposition, Performance, Musiktheater und Installation. Ihr besonderes Interesse gilt der Verbindung von akustischen und visuellen Formen sowie der Erforschung der performativen Qualitäten von Klang.
Essay - Dilan Yaziciog
Dilan Yaziciog ist seit 2020 Ratsmitglied der Grünen in Köln und sozialpolitische und migrationspolitische Sprecherin. Sie arbeitet als Dolmetscherin und setzt sich seit langem für kurdische Belange ein.